Oktober 19, 2023

Tenzin und das Samenkorn

Kindergeschichte über Selbstwert und die Bedeutung eines unterstützenden Umfelds:

Eines Tages wanderte der blinde Junge Tenzin durch die sanften Hügel Tibets. Er fühlte sich traurig und verwirrt, weil die anderen Kinder im Dorf ihm immer sagten, er sei zu langsam und würde nie etwas erreichen. „Du Blindfisch“ spotteten sie oft über ihn „Du bist zu klein, zu langsam und zu ungeschickt. Mit deiner Blindheit kann aus dir nichts werden.“ sagten sie oft. Durch seine Erblindung nahm Tenzin zudem viele Dinge die um ihn herum passierten anders wahr als seine Freunde und traf oft auf Unverständnis. „Du mal wieder.“ entgegneten seine Freunde oft genervt.
Um Antworten zu suchen, ging er zum weisen Mönch Dorje, der in einer einsamen Hütte in den Bergen lebte.

Als er ankam, lächelte Dorje und sagte: „Ah, Tenzin! Du siehst aus, als ob du schwer an etwas trägst, das viel größer ist als du selbst. Setz dich und erzähl mir, was dich beschäftigt.“

Tenzin setzte sich und sagte: „Ich weiß nicht, Meister Dorje. Die anderen Kinder sagen, ich sei nicht gut genug. Sie verspotten mich. Manche andere meiden mich sogar. Ich fühle mich wertlos und weiß nicht, was ich tun soll.“

Dorje lächelte weise und begann eine Geschichte zu erzählen: „Vor langer Zeit gab es ein kleines, unscheinbares Samenkorn, das in der Erde unter einem großen Baum lag. Das Samenkorn wurde oft von den anderen Pflanzen und Tieren übersehen. Einige sagten sogar, es sei nutzlos und würde niemals zu etwas Besonderem werden.“

„Das Samenkorn lag also da und war traurig. Aber eines Tages entschied es, dass es sich nicht länger verstecken wollte. Es setzte all seine Energie ein, um zu wachsen. Doch die Erde war steinig, und der große Baum warf einen großen Schatten. Es schien fast unmöglich für das kleine Samenkorn, zu einer großen Pflanze zu werden.“

„Da sagte der Wind zum Samenkorn: ‚Du bist vielleicht klein, aber das bedeutet nicht, dass du wertlos bist. Lass mich dich an einen anderen Ort bringen, wo du besser wachsen kannst.‘ Der Wind nahm das Samenkorn mit und legte es an einem sonnigen Fleck ab, weit weg vom großen Baum und den steinigen Boden.“

„Mit der Zeit und unter der warmen Sonne wuchs das Samenkorn zu einer prächtigen Blume heran, die alle mit ihrer Schönheit und ihrem Duft erfreute. Es war endlich an dem Ort, an dem es wertgeschätzt wurde und wo es seine wahre Bestimmung finden konnte.“

Nachdem Dorje die Geschichte beendet hatte, schaute er Tenzin an und fragte: „Erkennst du dich in dieser Geschichte wieder?“

Tenzin dachte einen Moment nach und antwortete: „Ja, ich glaube, ich bin wie das Samenkorn. Ich fühle mich nicht wertvoll, weil ich nicht an dem richtigen Ort bin oder weil die anderen mich nicht sehen können.“

Dorje nickte und sagte: „Was du beschreibst, ist auch als ‚Selbstwertgefühl‘ bekannt. Manchmal glauben wir, wir sind wertlos, nur weil wir uns an Orten aufhalten, wo wir nicht wachsen können. An einem Ort, wo unser Wert nicht gesehen wird. Aber das bedeutet nicht, dass wir wirklich wertlos sind. Wie der Samen im Gleichnis müssen wir den richtigen Ort und die richtige Zeit finden, um unser wahres Potenzial zu entfalten.“

„Wie finde ich diesen Ort, Meister Dorje?“ fragte Tenzin.

Dorje antwortete: „Indem du dir selbst treu bleibst und nicht auf die Worte derer hörst, die dich nicht verstehen. Sei wie der Wind in der Geschichte und suche den Ort, an dem du wachsen kannst. Vielleicht ist es ein neues Hobby, vielleicht ein anderer Freundeskreis oder vielleicht ein Weg, den du noch nicht erkannt hast.“

Tenzin fühlte sich ein wenig leichter und sagte: „Danke, Meister Dorje. Ich glaube, ich verstehe jetzt, dass mein Wert nicht von dem abhängt, was andere über mich denken, sondern davon, wie ich mich selbst sehe und wo ich am besten wachsen kann.“

Dorje lächelte und sagte: „Gut, Tenzin. Denke immer daran, dass du wie die Blume in der Geschichte bist. Du hast die Kraft, zu wachsen und zu strahlen, egal wo du bist. Aber es ist an dir, den besten Ort dafür zu finden. An manchen Orten wirst du es, wie das Samenkorn, schwer haben Wurzeln zu schlagen und wachsen zu können.“

Tenzin verließ die Hütte des weisen Mönchs mit einem neuen Verständnis für sich selbst und seiner Rolle in der Welt. Er fühlte sich ermutigt und wusste, dass er seinen eigenen Weg finden würde, um zu wachsen und zu strahlen, genauso wie die Blume im Gleichnis des weisen Dorje.


Manchmal ist das Leben wie ein Wind, der uns sagt, dass wir nicht am richtigen Ort sind. Der Wind will uns zu einem besseren Ort tragen, wo wir glücklich sein und wachsen können. Wenn wir merken, dass wir an einem Ort nicht glücklich sind oder uns nicht wohl fühlen oder wenn wir Ablehnung erfahren, ist das wie ein Zeichen des Windes, dass es Zeit ist, weiterzuziehen. So wie ein Samenkorn vom Wind zu einem Ort getragen wird, an dem es wachsen kann, können auch wir einen Ort finden, an dem wir uns richtig wohl fühlen.


Copyright & Urheberrecht Text & Bild, Dominik Habichtsberg, 19.10.2023

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