August 30, 2023

Jampa und der Weise des stillen Teichs

Einmal lebte in einem Kloster hoch in den tibetischen Bergen ein weiser alter Mönch. Er war bekannt für seine ruhige Ausstrahlung und seinen einfühlsamen Rat. Viele junge Lehrlinge lebten im Kloster, doch der jüngste und neugierigste unter ihnen war Jampa, gerade mal acht Jahre alt.

Jampa fühlte sich oft unruhig, besonders nach Besuchen im nahegelegenen Dorf oder an anstrengenden Schultagen. „Ich verstehe nicht“, sagte er zum Mönch, „immer wenn ich vom Dorf zurückkomme oder einen harten Tag in der Schule hatte, ist mein Kopf wie ein Bienenstock voll summender Bienen.“

Der Mönch lächelte und führte Jampa zu einem ruhigen Teich hinter dem Kloster. „Fülle diesen Becher mit Teichwasser und schau hinein“, sagte er. Jampa tat wie ihm gesagt wurde und bemerkte, dass das Wasser im Becher trüb war. „So fühlt sich auch mein Kopf an, alles ist durcheinander“, meinte er.

„Stell den Becher ab und warten wir ein wenig“, schlug der Mönch vor.

Nach einigen Momenten klärte sich das Wasser. „Was passiert, wenn du den Becher jetzt schüttelst?“, fragte der Mönch. „Der Sand wirbelt auf und das Wasser wird wieder trüb, oder?“, vermutete Jampa. „Genau“, bestätigte der Mönch, „und wenn du den Becher dann wieder hinstellst?“

„Der Sand setzt sich ab und das Wasser wird wieder klar“, folgerte Jampa.

„Das ist wie mit deinem Geist. Gib ihm Zeit zur Ruhe zu kommen, dann wird die Klarheit von selbst zurückkehren“, erklärte der Mönch.

„Es gibt aber noch etwas, das mich verwirrt“, fügte Jampa nach einer kleinen Pause hinzu. „An diesen anstrengenden Tagen bemerke ich, dass ich schneller wütend und traurig werde. Manchmal fällt es mir sogar schwer, glücklich zu sein.“

Der Mönch nickte. „Das ist eine gute Beobachtung. Stell dir vor, das trübe Wasser ist wie ein Fluss mit starken Strömungen. An Tagen, an denen dein Geist aufgewühlt ist, bist du leichter von diesen Strömungen mitzureißen.“

Jampa verstand. „Und was kann ich tun, um nicht so leicht von meinen Emotionen hin- und hergerissen zu werden?“

Der Mönch sah Jampa tief in die Augen. „Meditation ist dein stiller Ort am Ufer dieses Flusses. Meditation ist wie das stehen lassen des Glases. Dort kannst du lernen, deine Gedanken und Gefühle zu beobachten, ohne von ihnen mitgerissen zu werden. Wenn du deine Gedanken und Gefühle beobachtest, ohne sie als gut oder schlecht zu bewerten, wird sich das Trübe Wasser klären. Ob gut oder schlecht, wer weiß das schon? Du erinnerst dich an diese Geschichte?“

Jampas Augen leuchteten auf und er nickte.

Von nun an nahm sich Jampa täglich Zeit für Meditation, und nach und nach wurde es ihm immer leichter, sowohl den inneren als auch den äußeren Stürmen gelassen zu begegnen. Und so wurde er, obwohl noch so jung, ein Beispiel für alle im Kloster, wie man selbst inmitten des Sturms innere Ruhe finden kann.


Copyright & Urheberrecht Text & Bild, Dominik Habichtsberg, 30.08.2023

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