Juli 30, 2023

Tenzins Erkenntnis im Herzen des Sturms

Kindergeschichte über Selbstvertrauen und Urvertrauen:

In einem abgeschiedenen Dorf, verborgen in den faltigen Rändern der tibetischen Berge, lebte ein blinder Junge namens Tenzin. Tenzins Welt war geprägt von Ängsten und Unsicherheiten. Obwohl er nie die Farben des Sonnenuntergangs oder das Leuchten der Berggipfel gesehen hatte, hörte er unzählige Geschichten über sie.

Eines Tages kam ein weiser alter Mönch ins Dorf. Er hörte von Tenzin und seinen Ängsten und bat darum, ihn zu treffen. „Tenzin“, sagte der Mönch, „Gewiss habe ich lobende Worte über dich vernommen, doch auch von der Bürde, die schwer auf deinem Herzen liegt. Ist es dein Wunsch, die Fesseln der Furcht zu lösen?“. Der Junge nickte in Demut und sprach: „Ja, Meister, es ist mein Wunsch.“. Der Mönch nickte und sprach „Ich möchte dich auf eine Reise mitnehmen. Jeden Tag, für das nächste Jahr, möchte ich, dass wir gemeinsam den Berg besteigen, der euer Dorf überragt.“

Angst überkam Tenzin. Tenzin hatte viele Geschichten von Wanderern gehört, die versucht hatten, den wohl gewaltigen Berg zu besteigen und nie zurückgekehrt waren. Die Vorstellung allein löste tiefe Ängste in ihm aus. Wie konnte er, ein blinder Junge, sich in einer solchen Wildnis behaupten? Was, wenn er verloren ging oder dem Mönch eine zu große Bürde wurde? Aber der Mönch beruhigte ihn und versprach: „Ich werde an deiner Seite sein, Tenzin. Bei jedem Schritt werde ich bei dir sein.“

Mit einem Gefühl von Furcht, Unsicherheit, Zweifel und zugleich Hoffnung im Herzen begann Tenzin seine Reise. Jedes Geräusch, jedes unbekannte Gefühl unter seinen Füßen verstärkte seine Ängste. Doch der Mönch war immer da, half ihm auf, beruhigte ihn und ermutigte ihn, weiterzugehen. Trotz zahlreicher Stürze und Stolperer lernte er, eine merkwürdige Sicherheit in der Präsenz des Mönchs und in den Mustern der Welt unter seinen Füßen zu finden.

Eines Tages, mitten auf ihrem Weg, entfesselte die Natur einen Schneesturm von epischer Wucht. Der Sturm war so heftig, dass Tenzin und der Mönch getrennt wurden. Tenzin überkam Panik. Die Erinnerungen an die Geschichten kamen wieder hoch. Nach einer Weile jedoch erinnerte sich Tenzin an die Sicherheit, die er in der Nähe des Mönchs gefühlt hatte und an die Lehren, die er ihm beigebracht hatte. Obwohl er den Weg nicht sehen konnte, konnte er ihn fühlen, hören und fast schmecken.

Trotz der Trennung wusste Tenzin, dass er den nächsten Schritt machen konnte. Mit der Erinnerung an die ruhige Präsenz des Mönchs in seinem Herzen wagte er es, allein durch den Sturm zu gehen, Schritt für Schritt, mit der Zuversicht, dass er nicht alleine war.

Als der Sturm nachließ, fühlte er die vertraute Präsenz des Mönchs an seiner Seite. Sie hatten wieder zueinander gefunden. Sie setzten ihre Reise fort und erreichten schließlich den Gipfel des Berges.

Dort fragte der Mönch Tenzin: „Tenzin, wie fühlst du dich, jetzt, wo du auf dem Gipfel des Berges stehst?“ Tenzin antwortete mit ruhiger Stimme: „Meister, obwohl ich den Weg nicht sehen kann, weiß ich, dass ich weitergehen kann. Ich weiß, dass ich trotz aller Umstände nicht alleine bin.“

Der Mönch lächelte und nickte. „Das erste, Tenzin, ist das, was wir ‚Selbstvertrauen‘ nennen. Du hast gelernt, auf dich selbst zu vertrauen, dass du mit allem umgehen kannst und einen Weg findest, selbst wenn du den Weg im wahrsten Sinne des Wortes nicht siehst. Das zweite, Tenzin, ist das, was wir ‚Urvertrauen‘ nennen. Du hast gelernt, auch darauf zu vertrauen, dass sich die Dinge zum guten wenden werden und auf die zu vertrauen, die an deiner Seite stehen, egal welche Stürme euch vorübergehend zu trennen vermögen. Und mit Selbstvertrauen und Urvertrauen kannst du jeden Berg in deinem Leben besteigen.“


Copyright & Urheberrecht Text & Bild, Dominik Habichtsberg, 30.07.2023

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